Q & A

Im Jahre 2011 habe ich für die Redaktion des Sat-1-Magazins Planetopia eine Stellungnahme bzw. ein Q&A zu einem am 21.11.2011 ausgestrahlten Beitrag zum Thema „Rufbereitschaft“ erstellt, welche auf den Inhalt des Sendeformats im Zusammenhang mit einem schweren geburtshilflichen Schadenfall meines ehemaligen Mandanten Luca zugeschnitten war.

Der Fall selber spielte sich im OLG-Bezirk Stuttgart ab und führte schließlich zu einer bekannten Schmerzensgeldentscheidung des OLG Stuttgart mit Beschluss des Bundesgerichtshofs (OLG Stuttgart, Urt. V. 12.01.2010, Az.: 1 U 107/09, Nichtannahmebeschluss des BGH v. 28.09.2010, VI ZR 26/10).

Die Stellungnahme:

Wie viele Behandlungsfehler/geburtsgeschädigte in der Geburtshilfe gab es in den vergangenen Jahren?

und

Wie viele Behinderungen bzw. Sterbefälle sind auf Fehler oder Mängel in der Geburtshilfe zurückzuführen?

Antwort:

geschätzte 3.000 pro Jahr (das gesamte Schadensspektrum berücksichtigt).

Begründung:

Diese Frage ist allgemein nicht zu beantworten, da es keine nach Gynäkologie und Geburtshilfe aufgeschlüsselte Behandlungsfehlerstatistik gibt, die auch nach kindlichen Schädigungsmustern differenziert. Sie können aus diversen Statistiken in etwa ermitteln, wie viele Heilwesenschäden allgemein, also nicht auf die Geburtshilfe beschränkt, es pro Jahr gibt und wie viel % auf den Bereich Geburtshilfe (manchmal vermischt mit der Gynäkologie)  entfallen.

Die DBV-Winterthur (seit inzwischen vielen Jahren zur AXA gehörend) als einer der zum Ende der 90er größten deutschen Arzthaftpflichtversicherer, hatte im Bezug auf alle Arzthaftungsversicherer noch für das Jahr 1999 insgesamt ca. 20.000 Schadenfälle im gesamten Heilwesenbereich bundesweit angenommen (zit. nach Focus 50/1999). Die Zahl ist in den letzten 12 Jahren aber deutlich angestiegen, wie von jedem Haftpflichtversicherer bestätigt werden wird.      

Nach einem Bericht der norddeutschen Ärztekammer sind ca. 130.000 Behandlungsfehlerfälle jährlich zu beklagen (Stern, 15.11.2007). Nicht all diesen Schadenfällen wird seitens der Patienten aber nachgegangen oder werden bei der Krankenhaushaftpflichtversicherung auch gemeldet.

Diesbezüglich wird man zwar auch nur mit Zurückhaltung die Statistiken der Bundesärztekammer bemühen dürfen, wo nach eigenen Angaben nur ¼ aller Behandlungsfehlerfälle aktenkundig werden. Die anhand der bei den bundesweit eingerichteten Schlichtungsstellen und Gutachterkommissionen vorliegenden Daten lassen aber repräsentative Aussagen über Behandlungsfehlerquoten zu.

Legt man die Statistiken der Schlichtungsstellen zugrunde, so kann man davon ausgehen, dass von allen Schadensmeldungen im Berichtjahr 2010 ca. 6004 Fälle aus dem Krankenhausbereich stammen. 170 Fälle resultierten nachweislich aus dem Bereich klinischer Geburtshilfe, was einer Quote von 2,8% entsprechen würde. Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Schlichtungsstellen gerade im Bereich von Personengroßschäden in der Geburtshilfe nur mit Zurückhaltung in Anspruch genommen werden, und dass damit noch nichts über geburtshilfliche Fehler im Bereich niedergelassener Frauenärzte oder der Hebammenbetreuung gesagt ist, wo sicherlich ein ähnlicher Prozentsatz zu verorten sein wird.

Schaut man sich beispielsweise die Schadensmeldestatistiken einzelner Haftpflichtversicherungsunternehmen an, kann man weitere, abweichende Schätzwerte ermitteln:

Im Jahre 2001 wurden beim Kommunalen Schadenausgleich (KSA) für die neuen Länder   164 geburtshilfliche Schadenfälle gemeldet (6,4% Anteil der dort im gesamten Heilwesen gemeldeten Fälle).

Im Jahre 2009 waren mit zwar nur 161 geburtshilflichen Schadensfällen, aufgrund der insgesamt gesunkenen Gesamtzahl der gemeldeten Heilwesenfälle aber nunmehr 9,4% der gemeldeten Fälle durch die Geburtshilfe repräsentiert. (Quelle Geschäftsberichte KSA für die Jahre 2001 und 2009).

Legt man nun die obigen Statistiken zugrunde, so entfallen auf jährlich 130.000 Medizinschadenfälle ca. 2,8% bis 9,4% (Mittelwert: 6,1%) auf den Bereich der Geburtshilfe. Ausgehend von einer Gesamtzahl von 130.000 Medizinschadenfällen würde dies einem Gesamtaufkommen von ca. 7.930 Geburtsschadenfällen im Jahr entsprechen.

Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, ob in jedem Fall ein Behandlungsfehler vorliegt.

Legt man wieder die Zahlen der Bundesärztekammer (Schlichtungsstellen/Gutachter-kommissionen) zugrunde, so sind ca. 30% der gemeldeten Schadensfälle auch begründet; ein oder mehrere Behandlungs- und/oder Aufklärungsfehler liegt/liegen also vor. Diese Zahl ist seit vielen Jahren konstant.

Legt man nun die Statistik über begründete Behandlungsfehler von ca. 30% zugrunde, errechnet sich eine Zahl von 2.379 begründeten geburtshilflichen Behandlungsfehlern jährlich.

Nach eigener interner Auswertung der hier bearbeiteten Akten ist eine Behandlungsfehler- und Regulierungsquote von 50 bis 60% zugrunde zu legen.

Die Frage kann aber auch aus einer anderen Richtung eingegrenzt werden:

Jährlich werden in Deutschland ca. 700.000 Kinder geboren. Eines der in der Geburtshilfe dominierenden Schädigungsmuster, welches auch mit einer fehlerhaften geburtshilflichen Leistung in Zusammenhang stehen kann, ist die kindliche Cerebralparese. Nach Krägeloh-Mann (in Pädiatrie, 3. Aufl.) wird jährlich bei 2,0 bis 2,5 Promille aller Kinder eine Cerebralparese diagnostiziert. Das entspricht einer Gesamtzahl von ca. 1.575 Kindern jährlich mit dieser Form der Hirnschädigung.

Es gibt selbstverständlich eine Vielzahl anderer Ursachen für Cerebralparesen. Es lässt sich jedoch häufig ermitteln und ist im Regelfall auch wichtiger Gegenstand der medizin-juristischen und anwaltlichen Arbeit, ob eine geburtshilfeassoziierte Cerebralparese vorliegt, also eine Cerebralparese die zu einer Zeit verursacht wurde, in welcher nachweislich geburtshilfliche Versäumnisse vorgefallen sind.

Wendet man nun die Behandlungsfehlerstatistik der Ärztekammern und Schlichtungsstellen auf dieses arzthaftungsspezifisch häufige Krankheitsbild an, würde man auf eine Zahl von 473 Kindern kommen, die jährlich infolge von Behandlungsfehlern mit Cerebralparese auf die Welt kommen.

Hierbei ist dann allerdings noch nicht berücksichtigt, dass es neben der Cerebralparese noch weitere kindliche Schädigungsmuster gibt, die mit der Geburtshilfe und möglichen geburtshilflichen Fehlern assoziiert sind:

  • vermeidbar fehlerhafte Frühgeburten
  • vermeidbar infektionsgeschädigte Kinder
  • infolge fehlerhafter ärztlicher Beratung ausgetragene Kinder, die bei korrekter pränataler Beratung legal abgetrieben worden wären
  • Armplexusparesen oder Hirnschädigungen infolge der Verkennung und fehlerhaften Behandlung einer geburtshilflichen Komplikation (Schulterdystokie)   

Des Weiteren nicht erfasst sind diejenigen Fälle, bei denen es zwar zu geburtshilflichen Fehlern gekommen ist, die aber folgenlos im Hinblick auf das Kind geblieben sind.

Was bedeutet das für den Bereich der Geburtshilfe?     

Berücksichtigt man alle Inzidenzen und Unwägbarkeiten, so wird die Zahl der jährlich vermeidbar geschädigten Kinder sicherlich bei ca. 3.000 liegen

Wie verteilen sich die Fehler und Mängel zum einen nach Region (Stadt/Land) und zum anderen nach der Größe der Krankenhäuser?

und

Gibt es Statistiken zur Besetzung von Bereitschaftsdiensten bzw. Rufbereitschaften, und ist hier eine Verschiebung zu konstatieren?  

Das Eine bedingt häufig das Andere

Das Krankenhausniveau verteilt sich in Deutschland auf folgende drei Versorgungsstufen:

  • Krankenhäuser der Grundversorgung
  • Krankenhäuser der Regel- (und Grund-)versorgung
  • Krankenhäuser der Maximalversorgung.

Die drei Kliniktypen weisen in aller Regel aufsteigend personelle und apparative Ressourcen auf.

Bereitet das regionale Versorgungsniveau grundsätzlich größere Probleme?

Sie werden größere und damit ggf. auch qualifizierte Einrichtungen in Ballungsgebieten mit hoher Bevölkerungsdichte finden. Im ländlichen Bereich dominiert eher eine niedrigere Versorgungsstufe, mitunter auch noch das äußerst problematische sog. Belegarztmodell

(d. h.: Die geburtshilfliche Abteilung wird in einer kleinen Klinik durch einen eigentlich und hauptamtlich niedergelassenen Frauenarzt betrieben, der  zu den üblichen Geschäftszeiten noch eine Frauenarztpraxis betreibt; mit anderen Worten: Es ist nicht 24 Stunden täglich ein Frauenarzt in der Klinik) .

Feige hat in der Zeitschrift weiterleben (Nr. 45/April 2011) auch in diesem Zusammenhang interessantes Datenmaterial herausgearbeitet:

Geburtshilfe wird in Deutschland an ca. 900 „Plätzen“ vorgehalten (zum Vergleich: In England sind es ca. 60 „Plätze“). Feige führt dies auch auf die Ausrichtung der Kliniken und das angebliche Bedürfnis der Schwangeren nach „wohnortnaher Entbindung“ zurück. Also werden in Deutschland auch die ländlichen, weniger bevölkerungsdichten Gebiete mit außerklinischer und klinischer Geburtshilfe versorgt, weil es offensichtlich eine entsprechende Nachfrage gibt. Aber auch in bevölkerungsdichten Regionen steuern Schwangere zur Entbindung mitunter die wohnortnähere, aber kleinere Klinik an.

Diese Nachfrage ist allerdings bedingt und steht und fällt mit der Qualität der geburtshilflichen Beratung durch die niedergelassenen Frauenärzte und denjenigen in der Klinik. Das mag dort unproblematisch sein, wo die Schwangerschaft frei von Risiken ist.

Würden aber alle Schwangeren entsprechend der Mutterschaftsrichtlinien korrekt ärztlich beraten werden, würden bestimmte Schwangere eigentlich nur in hierfür vorgesehen Einrichtungen (Perinatalzentren; Haus der Maximalversorgung) entbinden dürfen. Häufig treffen Sie allerdings solche Risikoschwangeren (Risikomerkmale z. B. vorzeitige Wehen, Zustand nach Kaiserschnitt, Blutungen, drohende Frühgeburt, Überschreitung des Geburtstermins) aber trotzdem im Bereich belegärztlich geleiteter Kliniken oder kleinerer Krankenhäuser (Haus der Regel- und Grundversorgung) oder sogar in sog. Geburtshäusern (durch Hebammen geleitete Einrichtungen) an.

Dort müsste bereits die Aufnahme einer solchen Schwangeren unabhängig von der weiteren Entwicklung als sog. Übernahmeverschulden und somit als Behandlungsfehler bezeichnet werden.

Feige verweist auf die hessischen Perinatalerhebungen der letzten 10 Jahre und hat ermittelt, dass z. B. die Anzahl der Geburten in belegärztlich betriebenen Einrichtungen von 25,8% auf 20,7% gesunken ist. Er geht davon aus, dass die Zahlen in Bayern vergleichbar sein dürften. Die Anzahl von Geburten in Perinatalzentren ist entsprechend im zeitlichen Verlauf von 34,7% auf 39,2% gestiegen.

Unter Bezugnahme auf Daten des statistischen Bundesamtes sowie des InEK-Reportes (Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus) ist davon auszugehen, dass die Kaiserschnittfrequenz in belegärztlich geleiteten Einrichtungen etwa 5 bis 10% höher ist, als im Vergleich zu Kliniken mit kontinuierlicher Facharztpräsenz, obwohl ja gerade Frauen mit Kaiserschnittrisiko-Symptomen in Krankenhäusern entsprechenden Versorgungsniveaus entbinden sollten.    

Welche Anforderungen sind grundsätzlich an das personelle/apparative Versorgungsniveau zu stellen?

Das Versorgungsniveau von Frauen und Kindern in der Geburtshilfe ist unabhängig von Ort und Krankenhausgröße und Uhrzeit jederzeit zu verwirklichen. Kleinere Kliniken (Häuser bis zur Regel- und Grundversorgung) verfügen häufig nicht über die personellen und apparativen Ressourcen wie sog. Häuser der Maximalversorgung. Damit sind u.a. Schnittstellenprobleme bei der Betreuung von Geburten, die sich ja mitunter einige Tage und Nächte hinziehen können, vorprogrammiert.

Es werden aber trotz Vorgaben durch die Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) die „Mindestanforderungen an prozessuale, strukturelle und organisatorische Voraussetzungen für geburtshilfliche Abteilungen der Grund- und Regelversorgung“ von den Häusern durchweg nicht eingehalten.     

z. B.

  • es ist nicht 24 Stunden täglich ein Facharzt anwesend oder innerhalb von 10 Minuten verfügbar
  • es ist nicht innerhalb von 20 Minuten ein Notkaiserschnitt realisierbar
  • es ist nicht rund um die Uhr gewährleistet, dass eine Herz-Wehenton-Schreibung oder eine sog. Blutgasanalyse vorgehalten werden
  • es ist nicht 24 Stunden täglich ein Neugeborenennotarzt anwesend

Folgen: 

  • Reaktionszeiten können nicht eingehalten werden
  • Entscheidungen werden nicht oder zu spät getroffen
  • Diagnosen werden zu spät gestellt
  • Eine evtl. erforderliche Kaiserschnittentbindung wird zu spät durchgeführt

Diese Kriterien sind vor dem Hintergrund der Tatsache zu bewerten, dass es im Laufe eines Geburtsvorgangs zu einer Situation akuter kindlicher Gefährdung im Mutterleib kommen kann, bei der jeder Zeitverlust mit einem zunehmenden Gewebs- und Zelltod im kindlichen Hirn einhergeht.

Eine Auswertung des Qualitätsreports 2010 des G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) hat u. a. folgende relevanten Daten zutage gefördert, die mittelbar auch Rückschlüsse über etwaige Behandlungs- und Organisationsfehler zulassen

  • in 1,4% aller Fälle ist bei einer Notkaiserschnittindikation die vorgeschriebene Entbindungszeit von 20 Minuten nicht eingehalten worden (108 Fälle)
  • in 5,5% war bei einer Frühgeburt kein Neugeborenenkinderarzt anwesend

Diese Versäumnisse dürften erfahrungsgemäß statistisch seltener in Häusern der Maximalversorgung auftreten, zumindest dann, wenn Risikoschwangere dort frühzeitig und insbesondere gemäß den geltenden Mutterschaftsrichtlinien betreut werden. Diese Richtlinien haben im übrigen Normencharakter, was sich offenbar noch nicht bis zu jedem Geburtshelfer herumgesprochen hat!

In Häusern der Maximalversorgung begegnen Ihnen allerdings mitunter Behandlungsfehler im Bereich des sog. Anfängereinsatzes (Universitätskliniken sind Lehr- und Ausbildungskrankenhäuser) oder im Rahmen der kommunikativen Schnittstellenkoordinierung bedingt durch eine mitunter hohe Frequenz wechselnder Behandler in Bezug auf eine Gebärende.